Ricœur entwickelt seine Poetik innerhalb einer Theorie der semantischen Innovation, deren zwei komplementäre Aspekte die Metapher und die Erzählung sind. Die Metapherpdf, 469 kb · fr ist die semantische Funktion, welche die literarische Mimesis organisiert; im Mythos, d.h. in der Erzählung wird die metaphorische Mimesis entfaltet. Ricœur spricht entsprechend von der "Verbindung von Mythos und Mimesis", die "das Werk aller Poesie" sei. Ihr Rahmen ist der Diskurs.
Bezieht man Metapher und Erzählung auf die von Frege stammende Dichotomie zwischen Sinn und Referenz (Bedeutung), entsteht eine Reihe von vertrackten systematischen Fragen. Im für Ricœur paradigmatischen Fall der semantischen Innovation, der "lebendigen Metapher", ist nämlich sowohl der Sinn als auch die Referenz problematisch. Da es sich um eine semantische Innovation handelt, kann einerseits die Frage nach deren Sinn nicht durch den Rückgriff auf lexikalische Ressourcen gelöst werden (hierin wird der Unterschied zwischen Ricœurs und Blumenbergs Theorie der Metapher schlagartig deutlich, insofern Blumenberg seine Metaphorologie als Ergänzung zur Begriffsgeschichte konzipiert). Indem die Metapher andrerseits die direkte Referenz aufhebt, die den üblichen Gebrauch der Sprache regelt, problematisiert sie auch die Fähigkeit der Sprache, Referenzialität herzustellen.
Ricœur schlägt vor, beide Schwierigkeiten durch den Rekurs auf eine Texttheorie zu lösen. Zum einen ist jede literarische Metapher in einen Textzusammenhang eingebettet. Dieser Kontext ermöglicht es, im Akt der Lektüre ein "Netz von Interaktionen" zu konstruieren, innerhalb dessen die Metapher gedeutet werden kann. Zum anderen entwirft jeder Text eine mögliche Welt, die "Welt des Textes", und schildert damit mögliche Weisen der Weltorientierung: "Die Texte sprechen von möglichen Welten und von möglichen Weisen, sich in der Welt zu orientieren", stellt Ricœur fest. Die Frage nach der Referenz des literarischen Textes, die bekanntlich bei Frege keine zufriedenstellende Antwort fand, kann also als die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Welt des Textes als möglicher Welt und der Welt des Lesers umformuliert werden.
Zur Beantwortung dieser Frage griff Ricœur in Die lebendige Metapher (1975) zuerst auf den Gedanken einer doppelten Referenz zurück, den er in Jakobsons Arbeiten zur Metapher fand. Diese Idee verband er mit den semantischen Analysen der Metapher, die Wittgensteins Nachfolger vorgeschlagen hatten, sowie mit Goodmans Theorie der verallgemeinerten Denotation. Die "semantische Ausrichtung" der Metapher "reißt" den Sinn, der in seinem "ursprünglichen Referenzfeld" konstituiert wurde, aus diesem "heraus" und "projiziert" ihn in ein "neues Referenzfeld"; "die metaphorische Aussage" lässt plötzlich "ein unbekanntes Referenzfeld zur Sprache kommen". Dieses Konzept übertrug er auch auf den literarischen Text als Ganzes. Ein literarischer Text beschreibt die Wirklichkeit neu. Diese Beschreibung kann von Seelenzuständen (Lyrik) oder Aspekten der Welt der Praxis (Erzählung) handeln. Die Fiktion hat insofern heuristische Funktion: Sie lässt neue Weisen des "Fühlens" oder neue Möglichkeiten des Handelns erscheinen.